„Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie … dieser Zöllner“, betete der Pharisäer. (Lukas 18:11) Klassismus ist keine Erfindung der Neuzeit, nur das Wort ist neu.

Der Pharisäer in der Bibel unterscheidet zwischen seinesgleichen und „den anderen Leuten“, zu denen er auch „Räuber, Ungerechte, Ehebrecher“ zählt.

Das ist Klassismus in Reinkultur. Man nehme eine Klasse, Gruppe oder Schicht plus die damit verbundenen gängigen Vorurteile, tüte die Menschen entsprechend ein – und schon hat man ein bequemes Instrument, um beurteilen zu können, mit wem man es zu tun und was man von ihm zu erwarten hat. Bequem ist das schon, aber ist es auch zuverlässig und gerecht?

Beispiel 1: Bei Befragungen zum Für und Wider eines „Bedingungslosen Grundeinkommens“ wird als Ablehnungsgrund besonders häufig der folgende genannt: Damit wird doch nur die Faulheit der „abeitsscheuen Elemente“ gefördert, die sich schon jetzt vor jeder Verantwortung drücken. Meist folgen dann drastische Beispiele von Alkoholikern, die im Stadtpark das Komasaufen üben, von entwicklungsgestörten Kleinkindern, die den ganzen Tag vor der Glotze geparkt werden, oder von dauerschwangeren Teenie-Müttern beim Einkaufsbummel.

Ich will nicht leugnen, dass es solche Faultiere und Simulanten gibt (und schon immer gegeben hat), ich kenne selbst auch welche. Das Auffälligste an der Reaktion der Befragungsteilnehmer ist aber für mich nicht ihre einhellige Empörung über Drückeberger und Co., sondern die Selbstverständlichkeit, mit der sie ihren Mitmenschen das Sozialschmarotzen zutraun, die eigene Person aber davon ausnehmen.

Beispiel 2: Nach der Wende wählte mich die Statusgruppe „Wissenschaftlicher Mittelbau DDR“ zu ihrer Sprecherin und schlug mich als Mitglied des Akademischen Senats einer quasi neu zu gründenden Uni vor. Eine meiner ersten Aufgaben bestand darin, an der Evaluation der Lehrkräfte aus DDR-Vorgängereinrichtungen mitzuwirken. Im Senat hatte eine frisch aus dem Westen importierte Professorenschaft die Mehrheit und erwartete von der Evaluationskommission, dass bei möglichst vielen Altkadern eine unrechtsstaatliche Systemnähe oder ein ungeeignetes fachliches Profil festgestellt wurde, am besten gleich beides, dass sie also zum Abschuss freigegeben wurden. Es konnte schließlich nicht sein, dass nur ein paar Stasi-Spitzel und einzelne Mitglieder der alten Hochschulleitung gehen mussten.

Beim Wissenschaftlichen Mittelbau hatte der Eliteaustausch noch nicht begonnen, die Evaluationskommission bestand also im Wesentlichen aus akademischem Personal der DDR, das sich völlig überraschend mit einer quasi unlösbaren Aufgabe konfrontiert sah. Einerseits wurde ihnen von den alten Kollegen, sozusagen von ihresgleichen, zugetraut, für eine faire Beurteilung zu sorgen. Andererseits erwartete die neue Professorenschaft möglichst viele Fakten, die als Begründung herhalten konnten, um eine erkleckliche Anzahl von Beschäftigten auszumustern. Wäre es unter diesem Druck nicht das Klügste, überlegte ein Teil der Kommissionsmitglieder laut, unsere Vertrautheit mit den Binnenverhältnissen zu nutzen und uns für bestimmte Kollegen kein Bein auszureißen? Unser Auftrag ist schließlich, möglichst viele anständige Kollegen zu retten und nicht die  Luschen und Dünnbrettbohrer. Ich gehörte zu denen, die sich gegen eine solche Vorgehensweise aussprachen. Wir warnten vor der Gefahr, subjektive Animositäten in den Rang von Wahrheiten zu erheben und sich an Vorurteilen zu orientieren. Eine knappe Mehrheit folgte dieser Argumentation und wir machten uns daran, einen einigermaßen objektiven Kriterienkatalog zusammenzustellen, an den wir uns dann eisern hielten. Wir registrierten z.B. die erworbenen Bildungsabschlüsse und Lehrerfahrungen, die Funktionen in der Studierendenbetreuung und Selbstverwaltung, den Erwerb von Lehr- und Forschungspreisen und weitere gut messbare Fakten. Ein Kollege fand für unser Vorgehen ein schönes Bild: „Wenn wir diesen Sack jetzt noch einmal aufschnüren und mit subjektiven Beobachtungen auffüllen, dann kriegen wir ihn wo möglich nicht wieder zu und uns purzeln viel zu viele Menschen mit hinaus.“

Beispiel 3: Zahlreiche Studien belegen, dass der Bildungserfolg der Kinder in Deutschland nicht zuletzt davon abhängt, aus welcher Klasse und Schicht ihre Eltern stammen. Hier ist „die Kopplung von sozialer Herkunft und Kompetenzerwerb so eng wie in keinem anderen OECD-Staat. Personen aus sozial weniger privilegierten Elternhäusern weisen in allen Altersgruppen eine signifikant geringere Abiturientenquote auf als Personen aus sozial privilegierten Familien. Davon sind besonders Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien betroffen.“ (Infomaterial der Bundeszentrale für politische Bildung, 2020)

Seit einiger Zeit widmen sich soziologische Studien (z.B. von Hartmut Esser, Jörg Dollmann, Cornelia Cristen oder Nina Kolleck) auch der Frage, welche Kriterien Lehrer ihren Gymnasialempfehlungen zu Grunde legen. Zunächst einmal wird in allen Untersuchungen übereinstimmend festgestellt, dass in Deutschland sozial-selektive Bildungsempfehlungen die Regel sind. Kinder aus gebildeten Elternhäusern bekommen bei gleichen schulischen Leistungen bis zu viermal eher eine Gymnasialempfehlung als Kinder aus bildungsfernen Haushalten. Ihnen wird auch viel öfter der vorgezogene Übergang auf ein „grundständiges Gymnasium“ empfohlen (in Brandenburg nach 4 anstatt nach 6 Schuljahren), was den Übergang in ein privilegiertes Entwicklungsmillieu bedeutet. Andererseits wird talentierten Kindern aus Familien mit schwachem Bildungsniveau überproportional häufig von einem Gymnasiumsbesuch abgeraten, und zwar nicht nur von ihren Eltern, sondern häufig auch von den Lehrern. Deren Argumentation geht dann etwa so: Hast du dir das auch gut überlegt? Mit Unterstützung von zu Hause kannst du kaum rechnen. Geh doch lieber auf Nummer Sicher und beende die 10. Klasse mit einem guten Zeugnis.

Nicht weniger problematisch ist das festgestellte Ausmaß an intersektioneller Diskriminierung, von dem besonders Kinder von Alleinerziehenden und Kinder mit Migrationshintergrund betroffen sind. Anstatt solchen Vor-Urteilen mit professioneller Distanz zu begegnen, können sich die zuständigen Lehrerinnen und Lehrer oft nicht freimachen von den Stereotypen und Klischees, mit denen bestimmte Menschengruppen in der Öffentlichkeit etikettiert und stigmatisiert werden.

Ich erlebe gerade die Folgen einer „positiven Stigmatisierung“, denn mein 14-jähriger Enkel, der übrigens auch mit einer vorgezogenen Gymnasialempfehlung belohnt wurde, hat bei seiner Deutschlehrerin einen leichten Stand, seit sie ihn fragte, ob er was mit der Autorin der genderkritischen Beiträge auf der Kulturseite der „Märkischen Allgemeinen“ zu tun hat. Seine Antwort: „Irgendwie schon. Das ist meine Oma.“ Darauf die Lehrerin: „Na, jetzt ist mir alles klar.“

Lieber Karl, du hast längst gemerkt, worauf ich hinaus will.  Das Gefährliche am gewöhnlichen Klassismus  ist, dass er sich als Menschenkenntnis tarnt. Nicht zum ersten Mal habe ich das Gefühl, dass du diese Gefahr unterschätzt.

Ein Kommentar zu “„Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie … dieser Zöllner“, betete der Pharisäer. (Lukas 18:11) Klassismus ist keine Erfindung der Neuzeit, nur das Wort ist neu.”

  1. Karl sagt:

    Resignation, ein „Na und? Ist doch egal!“, können sich nur diejenigen leisten, die das Gefühl haben, auf dem „doppelten Boden“ eines Sicherheitsnetzes zu agieren. In Kriegen sollen sich tendenziell weniger Menschen das Leben genommen haben als in Wohlstandszeiten. Ich vermute: Wer damit beschäftigt ist, essen zu finden, um nicht zu verhungern, hat gar nicht genug „Muße“, depressiv zu werden. Paradox und trotzdem ist da Wahres dran.

    Wer weiß, dass er sicher ist und für sein Leben sowieso gesorgt wird (was willst du werden? Hartz IV-Empfänger!), ist je nach Persönlichkeitstyp gefährdet, sich nicht anzustrengen, sondern alles so laufen zu lassen, wie es kommt. „Das Leben“ erzieht in diesem Fall nicht konsequent, so wie Eltern, die zum Beispiel ein Bildschirmverbot als Folge für ein falsches Verhalten ankündigen und das dann aber jedes Mal nicht durchsetzen. Diese Kinder werden auch gleichgültig und bequem, sie zucken mit den Achseln und machen weiter das, worauf sie gerade am meisten Lust haben.

    Christen sagen, du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Gelernte Bundesbürger sagen, du kannst nicht tiefer fallen als in die „Hand des Sozialamtes“. Gottvertrauen und ein Urvertrauen in die Eltern sind wichtig, um sich mutig auf den Weg ins Leben zu machen. Das Vertrauen in das Sozialamt hat seine schädlichen Nebenwirkungen, die zuweilen den angestrebten Heileffekt übertreffen. Auch hier gibt es wie so oft zwei Gesichter einer Sache. Wir sollten uns nicht nur auf eine Seite kaprizieren, weder Du, liebe Meta, noch ich.

    Denken heißt, auf geistige Weise „Klassen“ von Dingen, Verhältnissen und ihren Erscheinungen zu bilden. Ohne das lässt sich nicht vergleichen, das Gemeinsame und Unterschiedliche finden, was wiederum die Voraussetzung für Abstraktionen und Verallgemeinerungen ist. Diese müssen an der Praxis als „Kriterium der Wahrheit“ immer wieder neu geprüft werden, aber diese Bildung geistiger Klassen ist unverzichtbar für den Fortschritt des Erkennens.

    Und wir müssen über Ursachen nachdenken, mehr noch über das „Wissen warum“ als über das „Wissen wie“ (Know how). Warum haben Schüler in Ländern mit einem autoritativen Bildungs- und Erziehungsstil in internationalen Leistungsvergleichen viel bessere Ergebnisse als die deutschen Schüler, auch beim kreativen Denken, obwohl doch angeblich äußere Ordnungen, die auch ohne das Einverständnis der Schüler durchgesetzt werden, das Denken einengen und zum Erliegen bringen?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert